Boleros
Noch heute, wo man das Gefühl haben könnte, unsere wunderschöne Insel drohe unterzugehen, hat Kuba mehr anzubieten als Elend, Repression und Totalitarismus, insbesondere uns im Ausland lebenden Kubanern. Die kubanische Ärztin, die nicht weiter weiß, die kubanischen Alten, die nach Essbaren im Müll suchen, die kubanischen politischen Gefangenen, denen das Regime das Leben entreißt und die kubanischen Eltern, die nicht wissen, wie sie ihre Kinder ernähren können, werden nicht die Muße haben, in kubanische Musik einzutauchen und sie zu genießen, möglicherweise schon deshalb, weil sie keinen Strom haben. Die stundenlangen „Apagones“ sind nämlich zurück. „Apagones“ heißt soviel wie Stromausfall, Blackout. In Kuba heißt das, eingeplante „Stromabschaltung“. Das Wort gehört zum gewöhnlichen Vokabular der Kubaner, die Apagones zu deren tristem Alltag. Nichtsdestotrotz möchte ich heute über Musik schreiben.
In meinem Buch „Ein kleines Stück Himmel“ erzähle ich folgende Anekdote aus weit zurückliegenden Jahren: Ich besuchte mit meiner Mutter, die uns in Deutschland besuchte, eine kubanische Freundin. Sie unterhielten sich, und ich hörte meine Mutter sagen: Ich höre liebend gerne „El Bolero de Ravel“ („Bolero“ von Maurice Ravel). Ja, ja, Kuba hat sehr gute „Boleristas“, erwiderte meine Freundin, die das Stück mit dem populären, schnulzigen kubanischen Musikstil „Bolero“ in Verbindung brachte und damit deren Komponisten, einschließlich den blitzartig zum Landsmann gemachten Maurice Ravel, meinte.
Meine Mutter war über die Erwiderung meiner Freundin etwas schockiert. Heute wäre sie stolz auf mich, wenn sie alles hören könnte, was ich nun über den kubanischen „Bolero“ erzählen kann. Dies lernte ich im Rahmen einer Veranstaltung, die ich im Berliner „Taller d‘Luis“ in Kreuzberg an einem der letzten Wochenenden besuchte. Dort lernten wir an zwei Abenden etwas Theorie über den „Bolero“, den in Kuba entstandenen Musikstil, und hörten einige passende Titel, vorgetragen vom kubanischen Trovador José Aquiles.
Googelt man "Bolero", findet man vor allem Eintragungen zum "Bolero de Ravel". Wikipedia zitiert aus "Bolero: Historia de un siglo de emociones" von Juan Montero Aroca. Danach handelt es sich bei dem "Bolero" um eine Musikform in gerader Taktart in 2/4 Metrum, mit einem typischen Rhythmus und unterschiedlichen Tempi. Im Internet fand ich auch eine Auflistung der zwölf schönsten Boleros, darunter auch den durch "Buena Vista Social Club" bekannt gewordenen Titel "Dos Gardenias".
Wie wir von José Aquiles erfuhren, komponierte der legendäre Pepe Sánchez 1883 in Santiago de Cuba den ersten „Bolero“, den er „Tristeza“ nannte, den wir nach der Interpretation des José Aquiles hörten und der Zeilen wie diese enthält: Un beso me diste un día, y lo guardo fiel en mi corazón (Ein Kuss gabst du mir eines Tages, und ich bewahre ihn treu in meinem Herzen). Mit der Zeit wurde der „Bolero“ bereichert und, wie Herr Aquiles sagte, durchquerte Felder und Berge, Flüsse und Meere. Durch verschiedene Prozesse und Entwicklungen erreichte er so unterschiedliche Regionen. Deshalb stammen einige Variationen des ursprünglichen „Bolero“ aus den karibischen Regionen von México, Venezuela, Kolumbien und Panama. Dort soll es Leute geben, die ihre jeweiligen Regionen als tatsächlichen Ursprung des „Bolero“ angeben und von kubanischen Autoren komponierte „Boleros“ sich zu eigen machen. Jedenfalls wurde mit dem Bolero „Tristeza“ diese musikalische Richtung geboren, die bald nicht nur in Lateinamerika, sondern auch weltweit wahrgenommen wurde.
An diesem Abend nahm auch ich die Aufforderung des großen Trovadors José Aquiles an das Publikum ernst, mitzusingen, und sang den Bolero des Eusebio Delfín „Y tú qué has hecho“ mit. Erinnerungen an die Zeiten kamen hoch, an jene Zeiten, in denen ich diesen Bolero in ein Kinderlied umwandelte und meinen kleinen Töchtern vorsang: En el tronco de un árbol una niña, gravó su nombre enchida de placer, y el árbol conmovido allá en su seno, a la niña una flor dejó caer; ein wunderschönes Lied.
Wir erfuhren, dass die Strukturen des „Bolero“ sich mit der Zeit weiter entwickelten und man der einzelnen Stimme einen Chor hinzufügte, so wie es Miguel Matamoros in seinen Liedern tat. Von denen, die die Form des traditionellen „Bolero“ hatten, einschließlich eines solchen Chors und eines Refrains, intonierte Herr Aquiles „Lágrimas negras“. Wie gerührt wir waren! Mit Gänsehaut und etwa verstimmten Stimmen begleiteten wir den Meister und die Akkorde seiner Gitarre: Aunque tú me has echado en el abandono, aunque ya han muerto todas mis ilusiones, en vez de maldecirte con justo encono, en mis sueños te colmo, en mis sueños te colmo de bendiciones …
In den 1940er Jahren bildete sich aus dem traditionellen kubanischen „Bolero“ unter den Einflüssen der US-amerikanischen Jazz und Blues eine neue Musikrichtung, neue Harmonien und Melodien ließen die Musikrichtung „Feeling“ entstehen. Wie ihre Bezeichnung sagt, geben diese Lieder Gefühle aus der Seele wieder, so Herr Aquiles. Die Bewegung erlebte eine prachtvolle Zeit in den Jahren 1960-1970. Es entstanden wunderschöne Lieder, die kubanische Interpreten exportierten und weltbekannt machten. José Aquiles erzählte uns, dass er selbst sein erstes Treffen mit dieser Musik als Kind hatte, als seine Großmutter ihn mit Liedern des „Feeling“ in den Schlaf wiegte. Er nannte uns einige der bekannten Vertreter des „Feeling“, wie César Portillo de la Luz, José Antonio Méndez und Frank Domínguez und sang das wunderschöne Lied „Contigo en la distancia“ des Erstgenannten, dessen Akkorde mir so kompliziert schienen, dass ich mit dem Mitsingen nicht nachkam. Doch als er die Aufforderung wiederholte, mitzusingen und er auf meine Frage, ob es laut sein durfte, antwortete: Siéntete como en familia (Fühle dich wie in Familie!), nahm ich ihn beim Wort.
Doch es gab noch aus der Geschichte der Trova zu erzählen. Ende der 1960er, Anfang der 1970er Jahre entwickelte sich die Bewegung der „Nueva Trova“, die endgültig 1972 in Manzanillo gegründet wurde. Namen wie Pablo Milanés, Silvio Rodríguez und Noel Nicola waren uns aus jenen Zeiten bekannt. Und nunmehr wie José Aquiles, denn gerade in der Bewegung der „Nueva Trova“ war er Zuhause.
Leider waren beide Abende mäßig besucht. Die, die hätten kommen können und es nicht taten, haben wahrhaftig zwei hervorragende Abende verpasst. Wir, die dort waren, ließen unserem Egoismus freien Lauf und genossen diese Abende als eine Art Privatkonzert. Ich persönlich war sehr gerührt, einen der großen Vertreter der „Trova“ live zu erleben, Musik aus meinem Geburtsland zu hören und für ein paar Stunden dorthin zurückversetzt worden zu sein. José Aquiles brachte uns ein Stückchen aus unserem vergangenen Leben in Kuba nach Berlin. Mein lachendes Auge dankte ihm dafür, das andere weinte, denn das verloren geglaubte Heimweh meldete sich während des Konzertes.
Wir sangen mit José Aquiles alte Lieder. Wir träumten, als er „Yolanda“ von Pablo Milanés vortrug, oder das wundervolle Lied „Te perdono“ von Noel Nicola, lauschten gespannt den schönen Titel „Arca de amor“ seines spontanen Begleiters Ernesto und Titel aus der neuen Platte des José Aquiles „Otro abril“, für die er die Preise „Cuba disco“, „Adolfo Guzmán“ sowie „NOSSIDE“ (Italien) gewonnen hat.
Diejenigen, die authentische kubanische Musik mögen, haben wirklich ein Konzert der Meisterklasse verpasst. Sie sollten es, wenn möglich, nachholen. José Aquiles ist bestimmt nicht das letzte Mal in Berlin aufgetreten. Absolut empfehlenswert!
Nat Neumann, August 2023
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