Das Schweigen der Linke
Vor einigen Wochen besuchte Joseph Borrell, Hoher Vertreter der Europäische Union (EU) für Außen- und Sicherheitspolitik sowie Vizepräsident der EU-Kommission, Kuba. Viele Kubaner vermissten seine öffentliche Stellungnahme zu der Lage der Menschenrechte in Kuba, zu den politischen Gefangenen und zu der tagtäglichen Repression von Andersdenkenden. Man vermisste sein Gespräch mit den Anderen, den kubanischen Dissidenten und Oppositionellen. Wir vermissten seine Solidaritätsbekundungen mit den von der kubanischen Staatsgewalt Vergewaltigten, seine Distanzierung vom Täter.
Joseph Borrell gehört der katalanischen sozialdemokratischen Partei PSC an. Schaue ich mir die Linie dieser Partei an, würde ich sie in die sogenannte Linke einordnen. Nichts dagegen zu sagen. Sein gutes Recht. Herr Borrell hat das Glück in einem Land zu leben, in dem es ein Mehrparteiensystem gibt. Er hat also die Freiheit zu wählen, welcher Partei er angehören möchte; sicherlich ist die Partei, der er angehört die Partei, die seinen Idealen entspricht. Herr Borrell hat tatsächlich Glück. Er darf seine Ideale ausleben. So wie der Spanier und Europaabgeordnete Manuel Pineda und der mexikanische Präsident López Obrador aus dem selben Grund Glück gehabt haben. So wie die Mitglieder der deutschen Partei „Die Linke“ und die des deutschen dazu gehörigen Vereins „Cuba sí“. Und so wie die vielen Kuba-Unterstützer, die in demokratischen Systemen leben.
Doch wenn sie schon eine Meinung zu meinem Geburtsland haben und kundtun: Wieso ist diesen Menschen das politische Schicksal der Kubaner einerlei? Wieso haben sie etwas für ein System übrig, das seinen Bürgern die Rechte aberkennt, die sie selbst genießen? Bedeutet das, sie ziehen Totalitarismus Demokratie vor? Heißt Ihre Zustimmung und Sympathie für das kubanische Unrechtsregime, dass sie selbst lieber unter einem System leben würden, in dem es keine demokratischen Wahlen gibt? Lehnen Sie das System ab, das es ihnen ermöglicht, ihre politischen Ansichten öffentlich zu vertreten? Würden sie lieber in einem Land leben, in dem verfassungsmäßig nur eine Partei zugelassen ist, möglicherweise die Partei, die fern von ihrer politischen Überzeugung ist? In einem Land, in dem anders zu denken ein Delikt ist? Wünschen Sie sich eine Regierung, die gewaltsam nach der Macht greift, Wahlen und Demokratie abschafft und mehr als 60 Jahre an der Macht klebt, als wäre sie alternativlos? Sehnen Sie sich nach Gesetzen in ihrem Land, die Ihnen nicht erlauben, legitime Menschenrechte auszuüben? Möchten Sie gern darauf verzichten zu demonstrieren und ihre Meinung kundzutun? Möchten Sie in einem Land leben, in dem bei der Polizei Willkür und Repression an der Tagesordnung steht und die Justiz nicht unabhängig ist? Wo Gewaltenteilung ein Fremdwort ist? Wäre dies für sie eine Option? Das kann ich mir nicht vorstellen! Und wenn dies keine Option für sie ist, wieso soll sie eine für die Kubaner sein?
Ebenso wenig verstehe ich, wieso der Diktator und Russland-Alliierte Díaz-Canel im demokratischen Westen offiziell empfangen wird, während in Kuba mehr als tausend Menschen aus politischen Gründen im Gefängnis sitzen und dort mißhandelt und gefoltert werden (einschließlich eines deutschen Staatsbürgers). Würde Europa genauso den nordkoreanischen Präsidenten empfangen? Aber ich gebe es zu, von Diplomatie verstehe ich wenig.
Letzte Woche verabschiedete das EU-Parlament mit der Stimme von 359 Abgeordneten (226 waren dagegen, 50 enthielten sich) eine Resolution, die Sanktionen gegen kubanische Politiker einschließlich Díaz-Canel wegen Menschenrechtsverletzungen fordert, u.a.
in der Erwägung, dass die willkürlich inhaftierten Personen ständig in Einzelhaft gehalten und dabei auch in Strafzellen gesperrt und grausamer Folter und unmenschlicher Behandlung unterzogen werden, ohne Zugang zu ihren Anwälten und angemessener medizinischer Behandlung zu haben, wodurch ihr Leben in Gefahr gerät; in der Erwägung, dass einige von ihnen in Gefängnissen festgehalten werden, die sich weit entfernt von ihrem Zuhause befinden, so dass ihren Familien die Möglichkeit genommen wird, sie zu besuchen;
in der Erwägung, dass Berichten zufolge derzeit über 1000 politische Gefangene – darunter Minderjährige, junge Menschen und Frauen – in Kuba gefoltert werden;
in der Erwägung, dass die Organisation „Prisoners Defenders“ in einem Bericht vom 30. Mai 2023 181 Fälle systematischer Folter politischer Gefangener in Kuba dokumentiert hat.
Diese Resolution kommt dadurch zustande, dass die Bedingung des Abkommens über politischen Dialog und Zusammenarbeit zwischen der EU und Kuba, nämlich die Einhaltung der Menschenrechte, nicht erfüllt werde. Das Europäische Parlament stellte fest, dass sich die Menschenrechtslage auf dem von einem Mangel an Demokratie und Freiheitesrechten geprägten Kuba in der langen Zeit, die seit dem Inkrafttreten des Abkommens verstrichen ist, in keiner Weise verbessert hat. Es bekräftigte, dass vielmehr sich die Menschenrechtslage auf der Insel weiter zugespitzt und verschlechtert hat, was einen klaren und systematischen Verstoß gegen die grundlegenden Bestimmungen des Abkommens über politischen Dialog und Zusammenarbeit darstellt. Ein wesentlicher Bestandteil dieses Abkommens ist, dass für die Vertragsparteien die Achtung und Förderung der demokratischen Grundsätze, die Achtung aller Menschenrechte und Grundfreiheiten, wie sie in der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte und in den wichtigsten internationalen Menschenrechtsübereinkommen und ihren Fakultativprotokollen niedergelegt sind, gelten. Die „Achtung der Rechtsstaatlichkeit“ bildet einen wesentlichen Bestandteil des Abkommens.
Die Linke hat dagegen gestimmt. Eine Schande, dass so viele Abgeordnete des demokratischen Europas dagegen gestimmt haben. Statt das kubanische Regime machen sie die Befürworter der Resolution dafür verantwortlich, die, wie sie erklären, der konservativen und extremen Rechte angehören. Weiß die Linke nicht, dass das kubanische Regime die oben genannten Grundsätze seit Jahrzehnten missachtet? Fehlt es ihr an Argumente, um zu erkennen, dass Kuba eine Diktatur ist? Kennt sie die entsprechende Berichte von „Amnesty International" und „Prisoners Defenders" nicht? Hat sie nicht mitbekommen, dass es in Kuba keinen politischen Dialog gibt, sondern einen Monolog der herrschenden Castro-Kaste und ihrer Gefolgschaft? Ist es ihr entgangen, wie der kubanische Staat mit seinen andersdenkenden Bürgern umgeht? Hat sie nicht vernommen, dass in Kuba Menschen übermäßig lange Haftstrafen absitzen, weil sie lediglich auf die Straße gingen und nach Freiheit riefen? Weiß sie nicht, dass in Kuba Minderjährige inhaftiert werden? Hat sie nicht mitbekommen, dass manche politische Gefangene in Kuba mehr tot als lebendig in Gefängnissen gehalten werden? Hat sie noch nie von den „Damas de Blanco“ gehört und wie sie drangsaliert werden? Hat sie noch nicht von Maykel Castillo gehört? Von Luis Manuel Otero Alcántara? Hat sie noch nie von José Daniel Ferrer gehört? Von Aymara Nieto?
Möglicherweise kennt sie nicht die Geschichte von Felix Navarro und seiner Tochter Saily Navarro, die zu neun und acht Jahren Haft verurteilt wurden, weil sie sich bei einer Polizeistation über das Schicksal von Freunden erkundigt haben, die am 11. Juli 2021 festgenommen worden waren. Vermutlich auch nicht die Geschichte vom Deutsch-Kubaner Luis Frómeta Compte, der ursprünglich zu 25 Jahren Haft verurteilt worden war (später zu 15 Jahren), weil er die Proteste des 11. Juli 2021 mit seinem Handy gefilmt hatte. Auch nicht die von Luis Robles, einem jungen Mann, der zu fünf Jahren Haft verurteilt wurde, weil er friedlich (allein und in aller Stille) gegen die willkürliche Inhaftierung eines befreundeten Künstlers demonstrierte. Hält die Linke dies für gerecht?
Erahnt die Linke, welches Unrecht der kubanische Staat unschuldigen Menschen und deren Familien durch die willkürlichen Verhaftungen und Bestrafungen zufügt? Weißt die Linke nicht, dass in Kuba mittlerweile politische Verhältnisse herrschen, die an Chile 1973 erinnern? Rechtfertigt die Linke diese massive Verletzung der Menschenrechte und diese institutionalisierte Missachtung der Menschenwürde etwa mit der Tatsache, dass Kuba zu ihrem politischen Spektrum gehört?
Gibt es unter diesen Ewiggestrigen jemand, der mir ihre Position erklären kann? Ich würde es gern verstehen.
Der Titel meines Posts ist zweideutig. Denn die Linke schweigt einerseits über die kubanische Realität. Und das ist schlimm. Doch noch schlimmer als das ist, dass die taube und blinde Linke andererseits sich zu Kuba äußert, die Realität ausblendet und sie falsch darstellt. Es wäre besser, wenn sie ganz schweigen würde. Im wahrsten Sinne des Wortes.
Die Linke lässt den freiheitsliebenden Kubanern im Übrigen keine andere Wahl, als sich der Rechten anzuschließen, denn die Linke hat sich auf die Seite des Unrechts gestellt. Auf die Seite der Feinde der Demokratie. Auf die Seite derer Unmenschlichkeit. Auf die Seite denen, die die Menschenrechte in Kuba mit Füßen treten.
Ich stelle einmal mehr fest: Ideologie frisst Hirn.
Nat Neumann, Juli 2023
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