Vaterland
Was genau ist Patria? Das Wort Patria wird im Deutschen meist mit „Vaterland“ oder „Heimat“ übersetzt. Die genaue Bedeutung hängt vom Kontext ab, da Patria verschiedene emotionale und kulturelle Nuancen tragen kann. Patria ist ein Wort, das ich in meiner Kindheit in Kuba fast täglich gehört habe. Deshalb bin ich mir nicht ganz sicher, ob Amor a la Patria ein spontaner Reflex ist. Liebe ist nicht angeboren, sondern die Fähigkeit zu Bindung und Zuneigung. Ihre Ausprägung und ihr Verständnis werden durch individuelle Erfahrungen und gesellschaftliche Einflüsse geprägt. Habe ich also meine Patria, Kuba, einfach nur geliebt oder wurde mir eingetrichtert, dass ich sie lieben muss? Angesichts der Indoktrination, der ich unter dem sozialistischen Regime in Kuba ausgesetzt war, fällt es mir schwer, diese Frage zu beantworten. Und was war Heimat für mich, ein Kind, das Anfang der 60er Jahre in Kuba geboren wurde? Die Revolution? Der Sozialismus? Fidel Castro? Uns wurde Amor a la Patria im nationalistischen Kontext beigebracht. Die Liebe zum Vaterland wurde von den Kommunisten mit der Liebe zur Revolución und der Liebe zu Fidel Castro gleichgesetzt.
In einem persönlicheren Sinn bedeutet Patria, Heimat, der Ort, an dem man sich zugehörig fühlt oder aufgewachsen ist, unabhängig von politischen oder nationalen Grenzen. Kann diese Zugehörigkeit aufhören, wenn die Bindung an das Land und seine neuere Geschichte aufhört? Es scheint so. Der ideologische Zwang, dem wir in Kuba ausgesetzt waren, hat uns auch in den Kopf gesetzt, dass wir für das Vaterland zu kämpfen hatten, Luchar por la patria, ein Motto des sozialistischen Kubas. Aber soll ich für ein Vaterland kämpfen, dessen Regierung nicht meine Interessen vertritt? Dessen Regierung ein totalitäres Regime installiert hat, das das Vaterland zerstört und das alternativlos an der Macht klebt, ohne überhaupt zu fragen, was die Menschen wollen? Wir kennen das Ende der vielen mutigen Menschen, die aus Liebe zu ihrem Vaterland für ein besseres Kuba kämpfen. Wir wissen, wieviele Leben das diktatorische sozialistische Kuba vernichtet hat, wieviele Familien getrennt. Mit der kubanischen Hymne werden wir aufgerufen:
Al combate corred Bayameses
que la Patria os contempla orgullosa
No temaís una muerte gloriosa
que morir por la patria es vivir
(…)
(Auf die laufende Schlacht Bayameses
das Mutterland schaut stolz zu
Fürchte euch nicht vor einem glorreichen Tod
denn für dein Land zu sterben ist zu leben)
Soll ich auf die "laufende Schlacht", um ein Regime zu verteidigen, das meine Kindheitserinnerungen dermaßen zerstört hat? Die Tatsache, dass ich den Text der einst so präsenten Hymne vergessen habe und nachschlagen musste, zeigt, übrigens wie meine Bindung an mein Geburtsland schwindet.
Ich kann nicht einmal sagen, dass mein Engagement für Kuba (z.B. mit diesem Blog oder den Büchern, die ich veröffentlicht habe) aus "Liebe zu dem Land, in dem ich geboren wurde" kommt. Mein Engagement gilt den politischen Gefangenen und den Dissidenten. Das Kuba, das ich mir wünsche, wird es unter dem Regime, das Castro 1959 errichtet hat, nicht geben.
Menschen wie ich werden von den Kommunisten „apátrida“ genannt, zu Deutsch „heimatlos“. Sie gehen davon aus, dass wir, um das Land zu lieben, in das wir hineingeboren wurden, Castros makabre Ideologie gutheißen, seine Verbrechen an kubanischen Bürgern billigen und die Missachtung der Menschenrechte zelebrieren müssen.
Wer in Kuba anders denkt, dem wird also de facto die Staatsbürgerschaft entzogen. Amor a la Patria bedeutet in Castros Kuba, seine Ideologie zu teilen. Vielleicht ist das der Grund, warum vielen Kubanern, die im Ausland leben oder leben müssen, die emotionale oder symbolische Konnotation verloren gegangen ist, die Patria oft mit Werten wie Zugehörigkeit, Identität, Tradition und Geschichte verbindet. Denn das kommunistische Regime Kubas hat nicht nur die einst blühende Wirtschaft des Landes zerstört, es hat das Land tief gespalten und die Gesellschaft polarisiert. Es hat uns unsere Identität geraubt. Es hat unsere Traditionen untergraben und unsere Geschichte entfremdet. Die Häuser, in denen wir aufgewachsen sind, gibt es nicht mehr. Die Straßen und Plätze, auf denen wir gespielt haben, auch nicht. Sogar das Essen und die Traditionen unserer Kindheit ist der Revolution zum Opfer gefallen. Der Castrismo hat die Menschen verändert, vertrieben, das Land praktisch entmenschlicht. Es stirbt.
Ein Nutzer der sozialen Medien behauptet sogar: (...) fue. Ya murió, no existe. Cuba se deshace en el Caribe (Kuba war. Es ist tot, es existiert nicht mehr. Kuba löst sich in der Karibik auf).
Ich habe jemanden, der 1962 als Kind mit seiner Familie aus politischen Gründen das Land verlassen musste und seit Jahren in den USA lebt, gefragt, was Patria für ihn bedeutet. Die Antwort: Ich habe keine Ahnung, weil ich noch nie über dieses Konzept nachgedacht habe. Ich verstehe wirklich nicht, was es bedeutet. Vielleicht, weil ich nie das Gefühl hatte, eine Heimat zu haben, wie sie es nennen?
Kurt Salomon Meier wurde 1940 mit seinen Eltern von den Nationalsozialisten in das Internierungslager Gurs in Frankreich deportiert. Später gelang ihnen die Flucht in die USA. Im Alter von 93 Jahren nahm er die deutsche Staatsbürgerschaft wieder an. Nach den Grund gefragt erklärte er, dies sei eine Konsequenz seiner Heimatliebe.
In der Zeitung des kommunistischen Kuba „Juventud Rebelde“ heißt es: La Patria es el reflejo de nuestra historia, nuestras tradiciones, nuestras luchas y victorias; es el hogar compartido donde convergen los sueños y las aspiraciones de una comunidad unida por lazos invisibles pero poderosos (Das Vaterland ist der Widerschein unserer Geschichte, unserer Traditionen, unserer Kämpfe und Siege; es ist das gemeinsame Haus, in dem die Träume und Bestrebungen einer Gemeinschaft zusammenlaufen, die durch unsichtbare, aber starke Bande verbunden ist). Angesichts der politischen Situation in Kuba, insbesondere im Hinblick auf die Menschenrechte, ist offensichtlich, dass der Begriff „Heimat“ von den regimetreuen Kubanern als Spiegel der revolutionären Geschichte verstanden wird, als IHR Zuhause, IHRE Träume und IHR Band untereinander. Wir, die wir ihre Ideologie und ihre verlogenen „Werte“ nicht teilen, werden nicht in diese Gemeinschaft des revolutionären Begriffs Patria aufgenommen. Wir sind ausgeschlossen, weil wir anders denken. Unsere Träume zählen nicht, uns verbindet nichts.
Oder ist Patria das, was Rubén Blades in seinem gleichnamigen Lied besingt?
(…)
No memorices lecciones
De dictaduras o encierros
La patria no la define
Los que suprimen a un pueblo
La patria es un sentimiento
En la mirada de un viejo
Sol de eterna primavera
Risa de hermanita nueva
(…)
Patria
Son tantas cosa bellas
(Lernt keine Lektionen auswendig
Von Diktaturen oder Gefangenschaft
Heimat wird nicht definiert durch
Wer ein Volk unterdrückt
Heimat ist ein Gefühl
In den Augen eines alten Mannes
Die Sonne des ewigen Frühlings
Das Lachen einer neuen kleinen Schwester
(...)
Heimat
Es gibt so viele schöne Dinge)
Der kubanische Dichter José Martí schrieb: Patria es comunidad de intereses, unidad de tradiciones, unidad de fines, fusión dulcísima y consoladora de amores y esperanzas (Heimat ist eine Gemeinschaft von Interessen, eine Einheit von Traditionen, eine Einheit von Zielen, eine süße und tröstliche Verschmelzung von Lieben und Hoffnungen). Patria es dicha de todos, y dolor de todos, y cielo para todos, y no feudo ni capellanía de nadie (Die Heimat ist Freude für alle und Leid für alle, der Himmel für alle und niemandes Lehen oder Kaplanei). Im Übrigen schrieb er auch in seinem dramatischen Gedicht "Abdala":
El amor madre, a la patria / no es el amor ridículo a la tierra,
ni la yerba que pisan nuestras plantas:
es el odio invencible a quien la oprime, / es el rencor eterno a quien la ataca…
(Vaterlandsliebe, Mutter / ist nicht die lächerliche Liebe zur Erde,
noch das Gras, auf dem unsere Fußsohlen herumtrampeln:
sie ist der unbesiegbare Hass derer, die sie unterdrücken, sie ist der ewige Groll derer, die sie angreifen...)
Patria und Amor a la Patria sind abstrakte Begriffe, die jeder anders interpretiert und auslebt. ChatGTP sagt mir zu den verschiedenen Interpretationen von Vaterlandsliebe: Patriotismus (positive Identifikation mit dem eigenen Land und dessen Werten), kritischer Patriotismus (kritische, aber dennoch liebevolle Haltung), Nationalismus (extreme Form der Vaterlandsliebe, der andere Nationen abwertet), Kulturelle Bindung (weniger politisch und mehr kulturell), Emotional-spirituelle Bindung (unabhängig von Politik oder kulturellen Unterschieden).
Wurde durch die Castro-Diktatur bei einigen von uns Kubanern die Liebe zum Vaterland zerstört? Nicht nur ich kann dies bestätigen: Han hecho que perdamos tanto, hasta que perdimos el amor por la patria (Sie haben uns so viel genommen, bis wir die Liebe zum Vaterland verloren haben), schrieb jemand im Internet.
Der Zahn der Zeit übernimmt den Rest, die Erinnerungen an unserer einst geliebten Heimat verblassen.
Unsere Celia Cruz, die ebenso mit dem Sieg von Castros Revolution Kuba verließ sang in ihrem wehmütigen Titel „Por si acaso no regreso“ (Falls ich nicht zurückkomme):
(…)
Y siempre me sentí dichosa
De haber nacido en tus
brazos
Y aunque ya no esté
De mi corazón te dejo un pedazo
Por si acaso
Por si acaso no regreso
(…)
Si no regreso a esa Tierra
Me duele el corazón
(Und ich war immer glücklich
In deinen Armen geboren worden zu sein
Und obwohl ich nicht mehr bin
Hinterlasse ich dir ein Stück meines Herzens
Nur für den Fall
Nur für den Fall, dass ich nicht zurückkomme
(…)
Wenn ich nicht in dieses Land zurückkehre
Mein Herz schmerzt)
Celia Cruz starb, ohne in das Land zurückzukehren. Vielen von uns wird es genau so gehen.
Nat Neumann, Dezember 2024
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